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Bewertung des Koalitionsvertrags: „Gleichstellung erfordert eine faire Teilung der Sorgearbeit!“

Die geschlechtergerechte Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit ist eine zentrale Stellschraube zur Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Wir als Bündnis Sorgearbeit fair teilen begrüßen, dass die Koalition sich das Ziel gesetzt hat, in diesem Jahrzehnt die Gleichstellung von Frauen und Männern zu erreichen. Hierfür wird es notwendig sein, bei der Umsetzung der ressortübergreifenden Gleichstellungsstrategie konsequent alle Ministerien in die Pflicht zu nehmen. Wenn mit dem geplanten Gleichstellungs-Check für Gesetzesvorhaben künftig tatsächlich immer auch die Geschlechterperspektive besser berücksichtigt wird, werden Menschen mit Sorgeverantwortung deutlich stärker in den Fokus rücken.

Das Thema unbezahlte Sorgearbeit sollte daher grundsätzlich und ressortübergreifend aufgegriffen werden und nicht auf den Zusammenhang mit einer partnerschaftlich orientierten Familienpolitik reduziert werden. Gleichstellung bedarf einer Gesamtstrategie, die Sorge für andere als Normalfall in einem Erwachsenenleben wertet und behandelt.

Umso mehr bedauern wir, dass die faire Verteilung von unbezahlter Sorgearbeit zwischen Frauen und Männern keine eigenständige Zielsetzung des Koalitionsvertrags ist. Wir halten es für ein Versäumnis, dass die Sorge-Krise neben dem menschengemachten Klimawandel und der Digitalisierung nicht als eine weitere zentrale gesellschaftliche Herausforderung im Koalitionsvertrag benannt wird, zumal vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen in der Corona-Pandemie und des demografischen Wandels.

Die Koalition strebt zur Bekämpfung des Fachkräftemangels unter anderem eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen an. Dem soll die Arbeitsmarkt-, Gleichstellungs- und Familienpolitik dienen. Für eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen ist das Schließen der Sorgelücke zwischen den Geschlechtern unabdingbar. Frauen müssen bei Sorge- und Hausarbeit entlastet und Männer bei der Übernahme unbezahlter Sorgearbeit unterstützt und in die Pflicht genommen werden. Dieser Zusammenhang fehlt im Koalitionsvertrag. Das halten wir als Bündnis Sorgearbeit fair teilen für einen Fehler.

Dagegen begrüßen wir ausdrücklich, dass neue Leistungen wie die bezahlte Freistellung für Väter und zweite Elternteile rund um die Geburt, die geplante Entgeltersatzleistung für Pflegezeiten oder das Gutscheinsystem für haushaltsnahe Dienstleistungen es Männern und Frauen erleichtern sollen, Sorge-, Haus- und Erwerbsarbeit fair zu verteilen. Wir finden darin unsere Forderungen zur Bundestagswahl wieder. Allerdings stehen die angekündigten Maßnahmen für mehr Gleichstellung mit dem Festhalten an Regelungen wie dem Ehegattensplitting oder den Minijobs im Widerstreit. Für den großen Wurf fehlen außerdem substantielle Verbesserungen für eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitpolitik.

Bewertung einzelner Maßnahmen

Arbeitsmarktpolitik

Die vorgesehene Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen durch ein Zulagen- und Gutscheinsystem, die zunächst für Alleinerziehende und Familien mit Kindern und zu pflegenden Angehörigen gelten soll, begrüßen wir, da damit die Vereinbarkeit erleichtert und Sorgearbeit aufgewertet wird, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden und illegale, meist von Frauen erbrachte Arbeit in Privathaushalten reduziert wird. Wir werden ein Augenmerk darauf haben, dass dieses bereits im letzten Koalitionsvertrag verankerte Vorhaben in dieser Legislaturperiode tatsächlich umgesetzt wird. Wichtig ist uns zudem, dass haushaltsnahe Dienstleistungen insbesondere für Familien mit kleinen Einkommen erschwinglich sind.

Wir als Bündnis Sorgearbeit begrüßen, dass für Arbeitnehmer*innen bessere Möglichkeiten für mehr Arbeitszeitsouveränität eröffnet werden sollen. „Experimentierräume“, die zur Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeiten genutzt werden können, sind jedoch sowohl familien- als auch gleichstellungspolitisch kontraproduktiv, stehen der von uns angestrebten besseren Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit für Männer wie für Frauen klar entgegen und stoßen daher auf unsere ausdrückliche Kritik. Bedauerlicherweise soll zudem die Brückenteilzeit durch Überarbeitung der Überforderungsklausel für Unternehmen nur zaghaft überarbeitet werden.

Ebenso kritisch bewerten wir die vorgesehene Erhöhung der Mini- und Midijob-Grenzen auf 520 bzw. 1.600 Euro. Zwei Drittel der Minijober*innen sind Frauen. Die von der Koalition geplante Anhebung der Einkommensgrenzen führt zu einer Ausweitung der Beschäftigungsverhältnisse, die dem Ziel der eigenständigen Existzenzsicherung von Frauen bis hin zu ihren Rentenansprüchen eklatant zuwiderläuft.

Der Abbau von Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen ist eine wichtige Voraussetzung für die faire Aufteilung von unbezahlter Sorgearbeit. Daher begrüßen wir ausdrücklich, dass der Koalitionsvertrag die Weiterentwicklung des Entgelttransparenzgesetzes festschreibt. Die in Aussicht gestellte Prozessstandschaft bleibt jedoch deutlich hinter der Forderung nach einem Verbandsklagerecht zurück. Für strukturelle Verbesserungen für mehr Lohngerechtigkeit braucht es zudem weitergehende Schritte, beispielsweise die Verpflichtung von Unternehmen, betriebliche Entgeltsysteme zu prüfen.

Das im Zuge der Pandemie breit diskutierte „Recht auf Homeoffice“ ist im Koalitionsvertrag bedauerlicherweise auf einen Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice für Beschäftigte in geeigneten Tätigkeiten reduziert. Bei der Ausarbeitung der Regelungen muss berücksichtigt werden, dass Homeoffice und mobiles Arbeiten aktuell zu einer noch stärkeren Übernahme unbezahlter Sorgearbeit durch Frauen und damit zur Erhöhung ihrer Belastung führen. Dass die Arbeit im Homeoffice arbeitsschutzrechtlich nicht normiert werden soll, ist daher umso unverständlicher.

Pflege

Positiv bewerten wir den vorgesehenen bedarfsgerechten Ausbau der öffentlichen Pflegeinfrastruktur in Form von Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege, da dies zur Entlastung Pflegender beiträgt.

Die vorgesehene Lohnersatzleistung für pflegebedingte Auszeiten ist aus unserer Sicht ein großer Schritt, da sie erwerbstätige Frauen mit Pflegeverantwortung besser absichert und für erwerbstätige Männer Anreize setzt, sich stärker in die Pflege nahestehender Menschen einzubringen. Wichtig für die Umsetzung ist eine sozial gerechte Ausgestaltung, damit Menschen mit kleinen Einkommen wegen der Übernahme von Pflege nicht in Armut rutschen.

Kinder/Familie

Die Einführung einer zweiwöchigen vergüteten Freistellung nach der Geburt eines Kindes für Väter oder zweite Elternteile findet unsere uneingeschränkte Zustimmung, da Väter damit von Beginn an in der Verantwortungsübernahme für ihre Kinder gestärkt werden. Wir setzen uns als Bündnis Sorgearbeit für eine voll bezahlte Freistellung ein und begrüßen ausdrücklich, dass es diese Möglichkeit laut Koalitionsvertrag auch für Alleinerziehende geben soll.

Positiv bewerten wir außerdem die Erweiterung des nicht-übertragbaren Elterngeldanspruchs um einen auf drei Monate, auch wenn wir uns den mutigeren Schritt hin zu mindestens vier Monaten wünschen.

Wir unterstützen zudem ausdrücklich die Einführung einer Kindergrundsicherung. Damit kann Kinderarmut deutlich reduziert werden.

Steuerrecht

Als Bündnis Sorgearbeit begrüßen wir die geplante Überführung der Steuerklassen III und V in das Faktorverfahren der Steuerklasse IV als längst überfälligen Zwischenschritt. Damit wird die Schlechterstellung verheirateter Frauen bei der Berechnung von Lohnersatzleistungen wie z. B. Eltern-, Arbeitslosen- oder Krankengeld verringert. Unbedingt notwendig ist aus unserer Sicht darüber hinaus die Einführung einer Individualbesteuerung mit übertragbarem Grundfreibetrag, um die existenzsichernde Erwerbstätigkeit von Frauen in einer Ehe zu fördern. Hier haben die Koalitionsparteien eindeutig zu wenig Fortschritt gewagt und bleiben insgesamt zu unkonkret. Wenn sie mit der angekündigten Weiterentwicklung der Familienbesteuerung die partnerschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Unabhängigkeit für alle Familienformen stärken wollen, müssen sie weiter gehen. Das hohe Armutsrisiko insbesondere von Alleinerziehenden und ihren Kindern resultiert oftmals aus der ungleichen Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit in der vorhergehenden Partnerschaft, manifestiert durch die Steuerungswirkung des Splittings.

Fazit

Aus unserer Sicht macht der Koalitionsvertrag gleichstellungs- und familienpolitisch einen erkennbaren Schritt nach vorn, auch wenn ein umfassender und konsistenter gleichstellungspolitischer „Wurf“ fehlt. Es wird Zeit, dass in der Politik Erwerbs- und Sorgearbeit für Frauen und Männer konsequent zusammengedacht werden. Nun wird es darum gehen, die angekündigten Vorhaben zeitnah umzusetzen.

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