Interview

„Niemand sollte zu Care-Arbeit gezwungen werden“

Interview: Simone Schmollack

Ist es verwerflich, Care-Arbeit auszulagern? Gibt es einen Unterschied zwischen gefühlter und geleisteter Sorgearbeit? Was muss die neue Ampel-Koalition für eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit tun? Ein Gespräch mit Expert*innen und Betroffenen im Nachgang des vom Bündnis Sorgearbeit fair teilen veranstalteten digitalen Fachgesprächs „Sorgearbeit: Who cares? Aufgaben für die Politik in der neuen Wahlperiode“, das am 10.11.2021 stattgefunden hat.

Frau Thiessen, wie viele Stunden unbezahlter Care-Arbeit sind zumutbar?

Barbara Thiessen

Eine pauschale Antwort gibt es nicht. Geht es um einen Notfall, etwa eine Betreuung nach einem Krankenhausaufenthalt, kann das rund um die Uhr sein. Auf Dauer und über Jahre ist die Versorgung multimorbider oder intensiver Pflege Bedürftiger für eine Person unzumutbar. Sie ist aber der Regelfall und das ist ein Skandal. Wir brauchen den Grundsatz in der Rentenversicherung, dass unbezahlte Care der Normalfall für alle und finanziell abgesichert ist.

Herr Kronsberger, viele Paare glauben, dass sie ein egalitäres Modell leben, sich also Sorgearbeit gerecht teilen. Die Zahlen zeigen jedoch, dass das eher Mythos ist. Sie indes leben egalitär – wie haben Sie und Ihre Frau das hinbekommen?

Marius Kronsberger

Das Schlüsselerlebnis war die Geburt unserer Zwillinge. Da war von vorneherein klar, dass es nur funktioniert, wenn alle uneingeschränkt am gleichen Strang ziehen. Es gab keine Chance mehr darauf, sich große Freiräume zu nehmen. Das war bei unserem ersten Kind zwar auch schon so, aber heimlich hoffte ich immer auf größere Freiräume. Diese Hoffnung macht unzufrieden. Im Umkehrschluss macht Realismus glücklich.

Frau Jakoby, Sie als Alleinerziehende können ihre Sorgearbeit nicht teilen, nicht einmal ungerecht. Fühlen Sie sich bei den Diskussionen um gerechte Verteilung von Care Arbeit ein wenig vergessen?

Louisa Jakoby

Familien, ob Paar- oder Einelternfamilien, sollen genauso effizient arbeiten wie Unternehmen. Das funktioniert aber nicht. Solange diese Erkenntnis nicht in die Familienpolitik vorgedrungen ist, wird sich nichts grundlegend ändern.

Herr Paul, eine Studie im Auftrag des Familienministeriums hat im November 2020 herausgefunden, dass „partnerschaftliche“ bzw.„gleichberechtigte“ Aufgabenteilung klar positiv konnotiert ist. Wobei Männer stärker den Nutzen für Frauen betonen, Frauen etwas stärker den Nutzen für Familie, Kinder und Männer. Gibt es nicht nur einen klar messbaren Gender Care Gap in Arbeitsstunden, sondern auch einen gefühlten?

Sven Paul

Tatsächlich gibt es Unterschiede zwischen dem messbaren und gefühlten Unterschied der geleisteten Sorgearbeit. Da ist zum einen eine gründliche und möglichst unmittelbare Datenerhebung wichtig, weil sonst zum Beispiel das gesellschaftlich erwartete Verhalten in die Antworten mit reinspielt. Zum anderen kann der sogenannte Mental Load nicht erhoben werden. Gemessen wird ja „nur“ die Zeit, die für Sorgearbeit aufgewendet wird. Aber wer fühlt sich für Kinder, Haushalt und Pflege verantwortlich und trägt diese Verantwortung? Das ist ja eine Leistung, die sich nicht in Minuten ausdrücken lässt. Deshalb ist die gefühlte Verteilung auch wichtig: Frauen und Männer müssen sich gemeinsam für die unbezahlte Arbeit verantwortlich fühlen, damit sich auch die messbare Zeitverteilung weiter ändert

Prof. Dr. Barbara Thiessen – Foto: Uta Kellermann

Müssen wir Männern einfach mehr Care-Arbeit zumuten?

Barbara Thiessen

Niemand sollte zu Care-Arbeit gezwungen werden. Aber es sollte auch nicht so sein, dass Caring Masculinities aufgrund von Strukturen und Leitbildern der Ausnahmefall sind. Zum Glück erleben immer mehr Väter, Ehemänner und Söhne, dass Care zu einem erfüllten Leben dazugehört. Nun muss nur noch aus dem Ausnahmefall Eltern- oder Pflegezeit bei Männern ein strukturell verankerter Normalfall werden. Wir brauchen dafür Entgeltgleichheit, Individualbesteuerung, Abschaffung von Minijobs und „atmende Lebensläufe“ etwa mit dem Optionszeitenmodell und reduzierten Erwerbsarbeitszeiten für alle. Wer im Lebenslauf keine Care-Zeiten vorweisen kann, muss mit Abzügen in der Rente rechnen. Nicht mehr umgekehrt.

Sven Paul

Wir müssen den Männern nicht mehr Sorgearbeit zumuten, sondern verhindern, dass sie im Lebensverlauf immer mehr Anteile an der unbezahlten Sorgearbeit verlieren. Zweitens ist es ja keine Zumutung, sich zu kümmern – auch wenn das nicht immer schön und vergnüglich ist. Das Brot zu verdienen und die Suppe zu kochen gehört zusammen. Wer nur das eine macht, dem fehlt das andere.

Ist es moralisch verwerflich, Sorgearbeit auszulagern?

Barbara Thiessen

Wir würden gar nicht überleben, wenn wir nicht bezahlte und professionelle Sorgearbeit hätten. Wer kann schon Intensivpflege, Betreuung von Suchtkranken, Bildungsanregung von Kleinkindern? Hinter der Frage steckt die Annahme, dass Care eigentlich Liebe ist und am besten unbezahlt und von Frauen stattfindet, alles andere erscheint demnach nur als mindere Lösung. Diese Annahme verbirgt sich hinter den Begriffen „Fremdbetreuung“ oder „Abschieben ins Heim“. Tatsächlich sind Erzieher*innen für Kinder keine Fremde, sondern wichtige Bezugspersonen. Ebenso entscheiden die Konzeption stationärer Einrichtungen und der Betreuungsschlüssel über Lebensqualität. Care wird über die Gleichsetzung mit privaten Empfindungen und kostenlosen Diensten ebenso idealisiert wie trivialisiert.

Marius Kronsberger

Es gibt Lebenssituationen, die es erfordern, die Kinder auch über die Zeit in der Kita hinaus betreuen zu lassen. Wer aber auf Zeit mit seinen Kindern verzichtet und andere dafür bezahlt, die Betreuung zu übernehmen, damit er oder sie 20 Überstunden in der Woche machen kann, sollte sein Lebensmodell hinterfragen.

Sven Paul

Die Menschen wollen und sollten einen Teil der unbezahlten Sorgearbeit selbst machen. Welchen, das sollen sie selbst bestimmen. Deshalb sind vielfältige und flexible Angebote wichtig: bei der Kinderbetreuung und den Ganztagsschulen, bei den haushaltsnahen Dienstleistungen und in der Altenpflege. Mit der Vielfalt der Angebote schwindet auch die moralische Belegung

Was wünschen Sie sich von der neuen Regierung?

Marius Kronsberger

Konkrete Anreize für Familien, die Gleichberechtigung zu leben. Väter müssen oft erst auf den Geschmack gebracht werden, über einen längeren Zeitraum alleinverantwortlich Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Wer das einmal gemacht hat, fällt auch danach familienfreundlichere Entscheidungen.

Barbara Thiessen

Eine Neuausrichtung von „Arbeit“: Wir brauchen ein Recht und ausreichend Zeit für Care-Aufgaben, ohne damit in eine Armutsfalle zu geraten. Kurz: Das Erwerb-Sorge-Modell als Normalfall in den Sozialversicherungen. Der Teufelskreis aus Gender Pay Gap – Gender Care Gap – Gender Pension Gap muss durchbrochen werden durch Entgeltgleichheit, Individualbesteuerung und Abschaffung sozialversicherungsfreier Beschäftigung (Minijobs). Zudem muss Schwarzarbeit in Privathaushalten durch regulierte, existenzsichernde und qualifizierte Dienstleistungsangebote ersetzt werden, etwa durch das Gutscheinmodell für haushaltsnahe Dienstleistungen. In unserem Manifest „Großputz! Care nach Corona neu gestalten“ (care-macht-mehr.com) haben wir das alles ausführlich formuliert.

Die Gesprächsteilnehmer*innen

Prof. Dr. Barbara Thiessen

Barbara Thiessen ist Professorin für Soziale Arbeit und Gender Studies an der Hochschule Landshut, sowie Mitgründerin der Care.Macht.Mehr-Initative.

Marius Kronsberger

Marius Kronsberger ist Mit-Initiator der Aktion #VaterschaftIstMehr und schreibt regelmäßig über Themen wie Vaterschaft und Sorgearbeit.

Louisa Jakoby

Louisa Jakoby ist Alleinerziehende und setzt sich für die Rechte von Einelternfamilien ein.

Sven Paul

Sven Paul ist Referent für Grundsatzfragen der Gleichstellungspolitik im BMFSFJ.