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„Sorgearbeit darf nicht weiterhin als Privatsache abgetan werden, es ist an der Zeit, diese Zuschrei­bung aufzubrechen!“

Text: Koordinierungsstelle

Am 10. November 2021 hat das erste digitale Fachgespräch des Bündnisses Sorgearbeit fair teilen stattgefunden. Die rund 120 angemeldeten Teilnehmer*innen bekamen Einblicke in aktuelle Forschungsergebnisse zu den Themen Sorgearbeit, Sorgelücke und empfohlenen Maßnahmen zu deren Schließung. In einem moderierten Gespräch teilten anschließend Vertreter*innen aus Verwaltung und Wissenschaft sowie Menschen mit Sorgeverantwortung ihre Perspektiven und individuellen Erfahrungen.

Die Bedürfnisse und Lebensrealitäten von Familien verändern sich. Dies geht deutlich aus dem 9. Familienbericht hervor, der zum Auftakt der Veranstaltung von Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld, Professorin für Soziologie an der Hertie School Berlin und Mitglied der 9. Familienberichtskommission, und Dagmar Müller, Leiterin der Geschäftsstelle Neunter Familienbericht am Deutschen Jugendinstitut, vorgestellt wurde. Im Zuge der familienpolitischen Reformen der letzten Jahre sei zwar ein Wandel der Geschlechterrollen festzustellen und ein Großteil der Väter wünsche sich mehr Zeit mit ihren Kindern und eine partnerschaftliche Aufteilung von Care-Arbeit, allerdings spiegele sich diese Entwicklung nur langsam in Verhaltensänderungen wider. So stellte Prof. Dr. Kreyenfeld klar:

„Wunsch und Wirklichkeit klaffen noch immer weit auseinander. Nur ein Viertel der Paare teilen sich Sorgearbeit fair auf, ein Großteil der Betreuungs- und Hausarbeit wird nach wie vor von Frauen erledigt.“

In dem Bericht wird zudem eine „Intensivierung“ von Elternschaft konstatiert. So sind die Anforderungen an die Bildung und Förderung von Kindern deutlich gestiegen. „Dieses neue Erziehungsleitbild adressiert vor allem Mütter“, wie Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld und Dagmar Müller in ihrem Vortrag vermuteten, es drohe darüber eine „Retraditionalisierung der Geschlechterrollen“.
Notwendig seien strukturelle Veränderungen. So empfehlen die Autor*innen des Familienberichts bspw. einen „Einstieg in den Ausstieg aus dem Ehegattensplitting“ sowie ein symmetrisches Elterngeldmodell 3+8+3, mit mehr exklusiven Monaten und einer Dynamisierung des Lohnersatzleistung. Denn eines zeigt die Studie ebenfalls: Wenn Väter auf Elternzeit verzichten, hat dies meist auch finanzielle Gründe.

Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld, Foto: Bettina Ausserhofer/Hertie School

Auch das Gender Care Gap Projekt, das mittels eines Interviews mit Katrin Lange, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), vorgestellt wurde, verdeutlicht, dass die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit ein großes finanzielles Risiko für Frauen darstellt. Das Projekt hat das Zusammenspiel von Einkommen, Alterssicherung und unbezahlter Sorgearbeit ergründet. Entsprechend der Forschungsergebnisse plädierte Katrin Lange dafür, die Ursachen und die Wirkungen des Gender Care Gaps ganzheitlich zu betrachten. Es gehe nicht nur darum, Menschen mit Sorgeverantwortung eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, sondern auch umgekehrt arbeitenden Menschen die Zeit für Sorgearbeit.

Im Rahmen des anschließenden moderierten Gesprächs, gaben Vertreter*innen aus Verwaltung und Wissenschaft sowie Menschen mit Sorgeverantwortung Einblicke in ihre Perspektiven und Erfahrungen. Auf welche Hürden bspw. Väter stoßen, wenn sie sich – Rollenklischees aufbrechend – für eine lange Elternzeit entscheiden, darüber berichtete Marius Kronsberger:

„Ich wurde oft dafür belächelt, dass ich eine lange Elternzeit plante und beim Rumgewitzel darüber schwang häufig mit, dass dies als unmännlich gesehen wird.“

Sein Appell: „Männer, nehmt euch eine ordentlich lange Elternzeit und nicht nur ein paar Wochen!“ Je mehr Männer sich ganz selbstverständlich dafür entscheiden, von Anfang an Sorgeverantwortung zu übernehmen, desto schneller wird es zur gesellschaftlichen Normalität, ist sich Marius Kronsberger sicher. Nahezu unsichtbar fühlt sich Marianne Nickl. Als Mutter eines behinderten Kindes sieht sie sich und ihre Familie in den aktuellen Forschungen nicht abgebildet. Sie stellte die Frage in den Raum, warum Betroffene wie sie nicht viel stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden. Dies würde verhindern, dass die Beschlüsse an den Bedürfnissen der Familien vorbeigehen. Sie kritisierte, dass Familie und die Organisation des Familienlebens immer noch als Privatangelegenheiten gesehen werden, für die der Staat nicht zuständig sei. Sie forderte einen finanziellen Ausgleich für den erhöhten Sorgeaufwand und wünschte sich, dass Menschen wie sie, die jede Menge Expertise mitbringen, nicht nur ehrenamtlich beraten und informieren, sondern dafür auch entlohnt werden. „Wir als Eltern haben einen Erfahrungsschatz und ein Expert*innenwissen, das – ginge es nicht um Sorgearbeit – in Unternehmen hoch honoriert werden würde. Bei Care-Arbeit wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass man seine Expertise unentgeltlich zur Verfügung stellt.“
Auch Prof. Dr. Barbara Thiessen, Professorin an der Hochschule Landshut und Mitbegründerin der Initiative Care.Macht.Mehr, bemängelte, dass Familie und Sorgearbeit viel zu sehr als Privatsache eingestuft werden. Sie appellierte an die Politik, diese Zuschreibung aufzubrechen. Ihrer Meinung nach müsse es ein Recht auf Zeit für Care-Arbeit geben. Gleichzeitig wäre es notwendig, dass „Sorgende auch ein Recht auf ein eigenes Leben haben, jenseits von einem Dasein für andere“. Die Pandemie habe die strukturellen Hürden auf den Weg zu einer gerechten Verteilung deutlich offengelegt, „nun bedarf es eines strukturellen Großputzes“, wie die Wissenschaftlerin mehrfach betonte. Dazu gehöre aus ihrer Sicht bspw., dass Phasen geleisteter Care-Arbeit obligatorischer Bestandteil für die Berechnung der Rente werden sollen.
Das Risiko von Altersarmut aufgrund der ungleichen Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit spielt besonders für alleinerziehende Frauen eine große Rolle. Hier sah Louisa Jakoby dringenden Handlungsbedarf seitens der Politik, die für eine angemessenere Berücksichtigung der Erziehungsarbeit u.a. in der Rentenpolitik sorgen müsse. Gleichzeitig kritisierte sie, dass Alleinerziehende immer als hilfsbedürftige Sozialfälle dargestellt werden, in deren Leben etwas schiefgelaufen sei. „Das Label der Abgehängten wird uns nicht gerecht“, stellte sie klar, „wir brauchen und wollen kein Mitleid, sondern einen Strukturwandel, wie bspw. flexible Betreuungsmodelle, der unseren Bedürfnissen als Familie entspricht.“

Dass die faire Verteilung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Sorgearbeit zwischen Frauen und Männern mit der Gleichstellungsstrategie als politisches Ziel verankert wurde, bekräftigte Sven Paul vom Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend (BMFSFJ). Zudem berichtete er von den bisherigen Anstrengungen des Ministeriums in diesem Bereich: So wurde bspw. das von Katrin Lange vorgestellte Gender Care Gap-Projekt auf den Weg gebracht. Gleichzeitig betonte Sven Paul, dass man einer echten Gleichstellung nur mit einer umfassenden Gesamtstrategie näherkommen werde, mit der Sorge als Normalfall etabliert wird. Nach einer bewegenden Gesprächsrunde und einer perspektivenreichen Diskussion, an der sich auch das Publikum rege beteiligte, endete das Fachgespräch mit einem leidenschaftlichen Schlusswort von Uta Zech von der Bündnis-Mitgliedsorganisation Business and Professional Women (BPW), die aus Sicht des Bündnisses nochmals für einen gleichstellungspolitischen Aufbruch und die Schließung der Sorgelücke plädierte.